Frankfurter Rundschau online vom 25. November 2009.

Schweizer Kanton Thurgau. Verlaufen im Wortwald.

Von Martin Ebner.

Wer aus Deutschland über den Rhein fährt, hat es nicht leicht, im Thurgau anzukommen: Auf der Landkarte steht Matzenrein, aber der Wegweiser zeigt Maazerooa; wer nach Holzmannshaus will, muss Holpmishus suchen; den Campingplatz Leutswil findet das Navigationsgerät vielleicht in Lütschwiil. Radikal wie in keinem anderen Kanton werden im Thurgau Orts- und Flurnamen extremmundartlich geschrieben. Nun geht das Hardcore-Schweizerdeutsch sogar Einheimischen zu weit: Massive Proteste zwangen die Kantonsregierung zu einer Denkpause. Für die neue Landeskarte müssen möglicherweise Tausende Bezeichnungen wieder geändert werden.
     Als Geometer ab dem 17. Jahrhundert die Schweiz kartierten, tauften sie Weiler, Wege und Wiesen hochdeutsch. Akzente und Nuancen würden aussterben, dachte man - Wyfelde, Wifälde, Wiifelde oder Wynfälde werde bald nur noch Weinfelden sein. Das änderte sich im Zweiten Weltkrieg: Zur Abgrenzung von Nazi-Deutschland planten Dialektforscher eine schweizerdeutsche Schriftsprache. Die Berner Regierung ordnete 1938 zur "geistigen Landesverteidigung" an, Landkarten mundartnah zu beschriften. 1948 ergab ein Kompromiss: Überregional bekannte Ortsnamen sollten standardsprachlich bleiben, jene von lokaler Bedeutung könnten der ortsüblichen Aussprache folgen. Vor rund 30 Jahren beschloss die Thurgauer Regierung, diesen Spielraum strikt mundartgetreu zu nutzen.
     Schreib, wie du sprichst! Also vielleicht Albanisch oder Türkisch? Von den 240.000 Thurgauern sind über 20 Prozent Ausländer. Allein im vergangenen Jahr wanderten mehr als 2000 Deutsche ein; die Apfelplantagen tendieren ins Polnische. Bei der Umbenennung wurde allerdings nicht das ansässige Volk befragt, sondern die Wissenschaft: Im Auftrag der Kantonsregierung erforschte Eugen Nyffenegger die Geschichte und Bedeutung von rund 30.000 Orts- und Flurnamen. Er fand zum Beispiel, dass Rheinklingen nicht von Rhein kommt, sondern von der Siedlung des Richilo - daher im Dialekt Riichlinge. Als vor zwei Jahren der sechste und abschließende Band des "Thurgauer Namensbuchs" herauskam, wurde Nyffenegger sehr gelobt.

"Leserbriefthema Nummer 1"
Nun bildet er zusammen mit dem Kantonsgeometer die Thurgauer Nomenklatur-Kommission. Die hat bislang rund 10.000 Toponyme rechtskräftig festgesetzt: Zur Einschweizerung wurden stumme -n weggelassen, Vokale verdoppelt, -e zu -ä gemacht. Wahrenberg wurde offiziell zu Woorebärg, Herderen zu Häädere, Westerfeld zu Wösterfäld. Gemeindenamen mit Postleitzahl blieben verschont: Sie werden vom Bundesamt für Statistik in einem eigenen Verzeichnis geführt, und Statistiker sind gegen Änderungen von Ortsnamen, weil man sonst Daten nicht mehr wieder findet. Für Bahnhöfe und Haltestellen ist das Bundesamt für Verkehr zuständig, das auf sprachgeschichtliche Überlegungen ebenfalls grantig reagiert. Straßennamen und Wegweiser wiederum sind oft Sache der Gemeinden, die meist andere Probleme haben. Nun liegt das Aussichtsrestaurant Thurberg, das laut Besitzern seit mindestens 1741 so heißt, nach wie vor an der Thurbergstrasse, ist aber auf den jüngsten Landkarten als Tuurbärg zu finden. Hoffentlich wissen das auch Feuerwehr und Rettung.
     Seit die amtlichen Schreibweisen auf Wegweisern sichtbar werden, empören sich die Thurgauer über "unnötige Umstellungskosten". Viele Namen seien auch falsch: Sie hätten nie in Roopel gewohnt, immer in Rotbühl, motzen Rentner. Andere erbost, dass dieselbe Regierung den Dialekt aus der Schule verbannt und die Kinder ermahnt, auch untereinander gehoben zu sprechen. Was ist nun mit Schulausflügen? "Wir wandern von Tüüffetaal über Groossrüüti nach Bir Heejen Schirr..."
     Man könnte Hochdeutsch in Klammern dazusetzen, etwa "Zigeze (Sigensee)", versuchte die Regierung zu besänftigen - man könnte auch abwaschbare Wegweiser nehmen, ätzte es aus dem Volk zurück. Abgeordnete wurden aufsässig. Als dann die Thurgauer Zeitung das "Leserbriefthema Nummer 1" aufgriff und eine "Notbremsung" forderte, damit man nicht "als kauziges Land mit exotischen Namen" dastehe, ruderten die Kantonsräte zurück. Für die noch nicht bearbeiteten fünf Gemeinden ist die Umbenennung vorerst gestoppt. Bis April soll jetzt eine Arbeitsgruppe einen Ausweg finden. Voraussichtlich werden zumindest die Siedlungsnamen gemildert. Da am Rhein Bunker und Drahtverhaue weitgehend abgebaut wurden, bliebe dann zur Abwehr von Eindringlingen nur noch der Rundfunk. Den Wetterbericht gibt es nämlich bloß auf Schweizerdeutsch: "Deet, wo tzunä tuät fürägüxlä, ischäs mäischt sunnig..."

Blogs zu Lokalnamen im Thurgau: www.roopel.blogspot.com
Schweizer Ortsnamenforschung: www.ortsnamen.ch